
„Im politischen Raum gelingt es uns nicht, Gefühle angemessen zu verarbeiten.“
Im Gespräch mit Sven Rohde ergründen wir die Rolle von Gefühlen in der Politik, kollektive Gefühlserbschaften und gesellschaftliche Traumata in Deutschland.
Gefühle in der Politik – damit beschäftigen sich aktuell unterschiedliche Fachdisziplinen. Was sagst Du: Brauchen wir mehr Raum für Gefühle in der Politik?
Ich glaube nicht, dass sich diese Frage überhaupt stellt. Wie sollen wir denn Gefühle aus der Politik heraushalten? Sie sind ja immer und überall da. Empörung, Häme, Genugtuung – vor allem diese negativen sind nicht wegzudenken aus der Politik. Es gibt aber natürlich die sehr männliche Fantasie, dass wir Themen rein sachlich betrachten und Gefühle einfach ausklammern können. Das gelingt in aller Regel nicht. In Stresssituationen brechen sie dann umso heftiger hervor.
Kannst Du Dir vorstellen, dass Gefühle nicht nur vorhanden sind und ausagiert werden, sondern dass sie explizit benannt werden und zur Sprache kommen?
Interessante Frage. Wenn ich nach einer Bundestagsrede sage: “Das macht mich betroffen, was Sie da gesagt haben” – dann besteht wohl die Gefahr, dass ich aus der entgegengesetzten Ecke des Hauses verlacht werde. Die Wut ist ein Gefühl, dass sich insbesondere Männer erlauben, aber wenn Männer über Trauer sprechen, laufen sie Gefahr, dafür beschämt zu werden. Das ist im politischen Alltag vermutlich keine gute Idee.
Welche Folgeschäden der Politik können entstehen, wenn Gefühle wie Angst, Wut oder Ohnmacht – starke negative Gefühle, die oft innerhalb der Migrationsdebatte angeführt werden … nicht als Gefühlsregung Raum erhalten bzw. nicht als Gefühle auf der Tagesordnung stehen?
Verdrängte Gefühle brechen sich immer Bahn. Wenn sie nicht angemessen verarbeitet werden, sind Krankheiten wie hoher Blutdruck die Folge. Psychische Erkrankungen sind häufig das Ergebnis von unterdrückten Gefühlen, die niemand anschauen möchte.
Wie können wir diese Gefühle besser – also hilfreich und unterstützend – in politische Prozesse integrieren?
Ehrlich gesagt finde ich schon die Idee, im politischen Raum offen über Gefühle zu sprechen, vollkommen fremd. Die Atmosphäre in Parlamenten – egal auf welcher föderalen Ebene – ist oft so vergiftet, dass alle nur noch versuchen, eine Fassade zu wahren. Bei bestimmten Anlässen ist es möglich, dass Rednern oder Rednerinnen die Stimme bricht, bei Gedenkstunden etwa. Das wird als authentisch empfunden. Aber wenn jemand in Tränen ausbräche, würde das wahrscheinlich als mangelnde Impuls- oder Selbstkontrolle abgewertet.
Wenn wir nun den Raum der parlamentarischen Debatten verlassen und uns den Wählerinnen und Wählern zuwenden, die über Parteien und Parteiprogramme abstimmen: Welche Rolle spielen hier Gefühle, die auch keinen anderen Raum finden?
Menschen, die Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung erlebt haben oder deren Familien geflohen sind – also sehr viele der Menschen, die einen Migrationshintergrund haben – kommen etwa bei politischen Debatten über Geflüchtete in emotionale Ausnahmezustände. Die einen, weil neu ankommende Geflüchtete ihren Status bedrängen könnten. Die anderen geraten beim Thema Remigration zum Teil in eine Panikstarre. Diese Themen lösen bei vielen Menschen Urängste aus.
Dein Schwerpunktthema sind nicht Gefühle, sondern Gefühlserbschaften, also transgenerationale Übertragungen von Gefühlen. Wo kannst Du für uns eine Linie ziehen: Wann endet ein eigenes, selbst erworbenes Gefühl, und wo beginnt eine Gefühlserbschaft?
Das ist mitunter nicht leicht zu trennen. Eine Klientin ist die Tochter einer Zwangsarbeiterin, die aus dem Baltikum verschleppt wurde. Diese Frau war als Kind, obwohl in Deutschland geboren, selbst noch staatenlos und bekam erst mit neun Jahren einen deutschen Pass. Hier mag das Gefühl von Ausgrenzung, Unsicherheit, Nicht-Dazugehören einen eigenen Anteil haben. Besonders stark ist aber das Gefühlserbe von der Mutter, die ja sogar verschleppt wurde. Wir erleben also, dass die Tochter ein ganz ähnliches Gefühl entwickelt, obwohl sie in Deutschland natürlich voll integriert ist.
Hintergrund-Info zu Gefühlserbschaften:
Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter der man-made disasters, die Millionen von Seelen beschädigten. Die Folgen lasten immer noch schwer auf vielen Menschen und ihren Nachkommen, ohne dass dies von ihnen selbst erkannt würde. Das gilt nicht nur für Kriegskinder und Kriegsenkel, sondern auch für Millennials sowie für Nachfahren von nach Deutschland Eingewanderten. Das Selbstbild in unserer Gesellschaft ist geprägt von Selbstbestimmung und Leistungsfähigkeit. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit der eigenen Familie gilt als Zeitverschwendung. In Krisen aber scheitert dieses Selbstkonzept. Mit »Gefühlserben« stellt Sven Rohde einen Ansatz vor, der ein neues Verständnis der Wechselbeziehung von historischen Ereignissen, individuellem Erleben und transgenerationaler Übertragung herstellt. Er ermöglicht eine Selbsterforschung wie auch die Bearbeitung in Therapie, Coaching und Beratung. So können aus unverstandenen verborgenen Wirkmächten unerwartete Kräfte für das eigene Leben erwachsen.
Ist es gesellschaftlich relevant, Gefühle insgesamt besser öffentlich besprechbar zu machen?
Sinnvoll ist das unbedingt. Allerdings fehlt mir die Phantasie, wie das gelingen könnte. Dafür bräuchte es zunächst einmal geschützte Räume, in denen wir das gemeinsam üben. Und es bräuchte eine vollkommen andere politische Kultur, momentan läuft es leider in die andere Richtung. Gefühle zeigen zu können, setzt voraus, dass mein Gegenüber damit angemessen umgeht, und davon kann in den allermeisten Debatten überhaupt keine Rede sein.
Ich habe mir die Frage nach dem Gefühlserbe vor allem nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine sehr intensiv gestellt. Die Menschen in meinen Workshops waren geradezu außer sich, dachten schon über Fluchtpläne nach. In der Öffentlichkeit wurde die Debatte um Waffenlieferungen schnell sehr aggressiv, geradezu hasserfüllt. Und da hätte ich gern gewusst: Welches Gefühlserbe tragen Politiker in sich, die so diskutieren?
Eignen sich Deine Methoden dafür, Menschen besser für den politischen Betrieb zu befähigen? Etwa dadurch, dass sie vorher in die Klärung von eigenen Themen und Gefühlserbschaften gehen, bevor sie politische Verantwortung übernehmen?
Es ist ganz generell sinnvoll und hilfreich, wenn Menschen mit ihrem Gefühlshaushalt, mit ihrem Gefühlserbe ins Reine kommen, so gut es eben geht. Aber so etwas programmatisch zu denken? Da müsste wohl erst eine gute Fee kommen.
Ist es denkbar, dass eine solche innere Arbeit – das Reflektieren unserer gesellschaftlichen Gefühlserbschaften – Teil der öffentlichen Bildungsarbeit wird? Mindestens fester Bestandteil der politischen Bildung?
Natürlich kann ich mir das vorstellen. Das Max-Planck-Institut hatte sogar eine eigene Abteilung für die Geschichte der Gefühle. Wie wunderbar! Auch die Soziologin Eva Illouz beschäftigt sich in “Explosive Moderne” mit der Rolle der Gefühle im öffentlichen Diskurs, ebenso Maren Urner in ihrem Buch “Radikal emotional”. Es wäre großartig, wenn wir uns ehrlich machen und sagen könnten: Natürlich spielen hier Gefühle mit hinein, und wir benennen sie auch! Aber dafür müsste es eben erst einmal leidlich geschützte Räume geben, in denen wir das tun können – wo uns das nicht sofort um die Ohren fliegt. Wo wir respektiert werden, zum Beispiel mit unserer Trauer. Der Verlust von Heimat ist etwas tief Trauriges. Und natürlich verzweifeln wir alle manchmal an der Welt. Das erst einmal stehen zu lassen, nicht sofort Schuldige anzuklagen, sondern nach integrativen Lösungen zu suchen, wäre ein guter Anfang
Lass uns über kollektive gesellschaftliche Traumata in Deutschland sprechen. Wenn gemeinsame Gefühlserbschaften ganze Staaten und Gesellschaften lähmen und blockieren – kann es da Auswege geben?
Eine Traumatherapie kann immer nur der oder die Einzelne machen. Es gibt Forschung dazu, wie man Großgruppen konfliktlösungsfähig macht. Es gab dazu vor einigen Jahren einen Kongress über kollektive Traumata mit Thomas Hübl. Da ging es in einem Gespräch darum herauszufinden, wie die südafrikanische Gesellschaft nach Jahren der Apartheid friedensfähig wurde. Dabei kam heraus, dass es im Wesentlichen um Respekt ging. Ich erkenne an, dass du anders bist als ich. Und dass du auch etwas anderes willst als ich. Aber ich respektiere dich darin. Und wenn du das auch tust und wir beide anerkennen, dass dieser Respekt angemessen ist – dann können wir miteinander sprechen.
Und das ist eine Grundvoraussetzung? Ohne die geht es nicht?
Genau. Ohne diese Grundvoraussetzung geht es nicht. Auf einer Tagung habe ich vom ReSource-Projekt des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften erfahren. Da ging es um die Frage: Können wir Empathie und Nächstenliebe schulen? Ja, das geht! Und es gibt drei Dinge, die dafür erforderlich sind. Erstens: Empathie. Ich kann meine eigenen Gefühle wahrnehmen und aus dieser Kenntnis heraus mit anderen in Resonanz gehen. Zweitens, Mitgefühl: eine Fürsorge für andere und das Bedürfnis, ihnen in schwierigen Situationen zu helfen. Und drittens: „Theory Of Mind“. Das ist die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in die Lage des anderen zu versetzen, auch dann, wenn er sich durch Alter, Geschlecht und Herkunft stark von mir unterscheidet. Wenn diese drei Dinge zusammenkommen, dann sind Menschen tatsächlich in der Lage, anders miteinander klarzukommen. Und diese Dinge lassen sich tatsächlich schulen.
Vor einer Weile hast Du ein Interview über Gefühlserbschaften bei „Welt online“ gegeben. Dieses Interview löste in kurzer Zeit einen wahren Shitstorm aus. Kannst Du Dir mit etwas Abstand erklären, welche Inhalte diesen Shitstorm getriggert haben?
Die Überschrift lautete „Das zerstörerische Gefühlserbe der Nazi-Zeit“. Wenn irgendwo „Nazi“ drübersteht, dann reagieren manche Menschen darauf allergisch. Also darauf, dass über Nationalsozialismus überhaupt noch diskutiert wird. Die wollen darüber nicht mehr sprechen und das Thema insgesamt aus der Öffentlichkeit verbannen, endlich den vielzitierten Schlussstrich ziehen. Und wenn dann einer kommt, der sagt: „Dieses Thema ist aber auch für Dich von Bedeutung – uns beeinflusst auch heute noch, was damals geschehen ist“ – dann ist der erste Impuls: Leugnung. Der zweite Impuls: Das sind „links-grün versiffte Wahnideen“, und der Typ – also ich – hat sowieso keine Ahnung, das ist ein „selbsternannter Experte“. Leugnung und Abwertung sind sehr verbreitete Abwehrmechanismen, die bei diesem Thema sofort da sind. Wenn diese Menschen akzeptieren würden, dass es so etwas wie eine Gefühlserbschaft gibt, dass sich diese Fragen also auch auf den eigenen Stammbaum beziehen könnten, dann würden sie feststellen, dass sie sich damit auseinandersetzen müssen. Und das wollen sie auf keinen Fall. Ähnliche Mechanismen greifen auch bei Klimaleugnern. Wer den Klimawandel als Realität akzeptiert, muss seine eigene Lebensweise hinterfragen. Die Leugnung dagegen hat zum Ziel, das Beharren auf den Status Quo zu rechtfertigen und gleichzeitig den eigenen Selbstwert zu schützen.
Wir sehen, dass Leugnung und Verdrängung – von Ereignissen, die in der Vergangenheit liegen, aber auch von sehr gegenwärtigen Themen wie dem menschengemachten Klimawandel – effektive Mechanismen sind, um mit bestimmten Fragen oder Gefühlen umzugehen (oder eben nicht umzugehen). Dass es im Grunde nicht möglich ist, diese Leugnung und Verdrängung politisch zu bearbeiten. Hast Du eine Idee oder eine Hoffnung, wie wir hier weiterkommen?
Hier möchte ich die Historikerin Ute Frevert, die sich mit der Geschichte der Gefühle beschäftigt hat, zitieren. Sie sagt: „In unserer Gesellschaft muss man auch auf Bullshit erst mal respektvoll reagieren, denn sonst erreicht man die Menschen nicht, die Bullshit reden. Man muss ihnen zuhören, das ist wichtig, denn damit nimmt man sie ernst und gibt ihnen das Gefühl, ernst genommen zu werden. Aber zuhören heißt nicht stehenlassen oder bestätigen. Es heißt auch: befragen und konfrontieren mit anderen Wahrheiten und Wahrnehmungen.“ Ich finde das eine wunderbare Haltung – Hauptsache, wir bleiben gesprächsbereit. Nur so können wir Menschen, die anderer Meinung sind, noch erreichen.
Sven Rohde ist Coach und Autor des Buches „Gefühlserben – die geheime Macht und Kraft unserer Herkunft“. Zu diesem Thema bietet er seit 2018 Workshops an und veröffentlicht regelmäßig den Podcast »Gefühlserben«. https://svenrohde.com
QUELLEN:
- Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: https://www.mpib-berlin.mpg.de/de
- Eva Illouz, „Explosive Moderne“: https://www.suhrkamp.de/buch/eva-illouz-explosive-moderne-t-9783518432068
- Maren Urner, „Radikal emotional“: https://www.droemer-knaur.de/buch/prof-dr-maren-urner-radikal-emotional-9783426447765
- Thomas Hübl über kollektive Traumata: https://thomashuebl.com/de/category/kollektives-trauma/
- ReSource-Projekt: https://www.resource-project.org/
- Interview „Welt online“: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus254603412/Traumata-ueber-Generationen-Das-zerstoererische-Gefuehlserbe-der-Nazi-Zeit.html
- Ute Frevert: https://www.mpib-berlin.mpg.de/mitarbeiter/ute-frevert