Demokrative meets JoDDiD: Wie demokratiefähig sind wir noch?

(c) JoDDiD // Anika Dollmeyer und Reederei // Benjamin Jenak

Wenige Tage nachdem in den USA zum zweiten Mal Donald Trump als Präsident vereidigt wurde, sind wir verabredet mit der John Dewey Forschungsstelle für Didaktik der Demokratie (JoDDiD) an der TU Dresden. Wir sind daran interessiert, welche Anforderungen eine Demokratie heutzutage an ihre Wählerinnen und Wähler stellt – und wie sie erlernt werden können. Was heißt das eigentlich, Demokrat oder Demokratin zu sein – und kann ich der Demokratie mangels einschlägiger Kompetenzen ungewollt schaden?

Auf Einladung der JoDDiD-Projektkoordinatorin Agnes Scharnetzky nehmen wir teil am wöchentlichen Brainstorming der Forschungsstelle und dürfen unsere Fragen mehreren Expertinnen und Experten für die Didaktik der Demokratie stellen.

Von dem Staats- und Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde wurde der Satz geprägt „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Gilt dieses Böckenfördesche Diktum heute immer noch, und möglicherweise mehr denn je?

Böckenförde sagt mit seinem Diktum etwas, was andere wie beispielsweise Oskar Negt auch sagen: Demokratie ist eine Staatsform, die gelernt werden muss! Es geht also um die Frage: Ist der gesellschaftliche Grundkonsens noch so stark, wie wir dachten? So stabil, wie er für eine tragfähige Demokratie sein muss? Haben wir eine gemeinsame Vorstellung davon, wo wir hin wollen, und einen moralischen Minimalkonsens, den wir für gesetzt halten und nicht hinterfragen wollen?

Wissenschaftlicher Wahrheitsbegriff und Klimaschutz

In einigen Bereichen scheint sich dieser Grundkonsens aufgelöst zu haben. Das zeigt sich beispielhaft daran, wie weit verbreitet und salonfähig es in Teilen der Gesellschaft ist, offensichtliche Lügen und wissenschaftlich widerlegte Aussagen als Wahrheit zu akzeptieren. Typische Spendenläufe für ein Aufforstungs- oder Klimaprojekt werden an Schulen nicht mehr gemacht, weil Eltern sich beschweren, es handle sich um  “linke Gesinnungspolitik”.

Im Gespräch fragen wir uns, wie ein demokratischer Grund- und Minimalkonsens zustande kommt, ausgehandelt, legitimiert und verankert wird. Was geschieht, wenn dieser Grundkonsens, welcher unsere Demokratie trägt, nicht mehr ausreichend zukunftsfähig ist? Können wir ihn erneuern, ohne ihn aufzugeben?

Entwicklung im Laufe der Zeit

Ende der 2000er-Jahre war die Situation noch anders. Die Zeiten erschienen unpolitisch. Politische Bildung hatte die Aufgabe, politisches Interesse überhaupt erst zu wecken und mit Jugendlichen gemeinsam zu erkennen, was politisch ist. Heute sind Menschen politisiert und äußern ihre Ansichten zu Konfliktthemen, die nun offener zutage treten, während sie  vorher vielleicht vom gesellschaftlichen Wohlstand überdeckt wurden. Wenn die geäußerten Meinungen allerdings unseren Grundrechten widersprechen, ist das nicht mehr demokratieförderlich. 

Menschenfeindlichkeit und Rassismus

Laut den Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung gibt es menschenfeindliche Einstellungen auf einem hohen Niveau, und auch geschlossen rechtsextreme Weltbilder verzeichnen einen Zuwachs. Andere Werte aus dem Grundgesetz werden unterschiedlich interpretiert und müssen ausgehandelt werden. Wenn laut der neuesten Studie von More in Common mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland davon ausgehen, dass es in der Demokratie vor allem um die Durchsetzung eines einheitlichen Volkswillens geht, dann ist das ein Problem, weil der Aspekt der Aushandlung unterschiedlicher Interessen dabei abhanden kommt.

Aufgaben der Politik-Didaktik in Abgrenzung von Erziehung und Sozialpädagogik

Wir leben in einer Zeit der multiplen Krisen von Gesundheit über Klima bis hin zur Wirtschaft. Gleichzeitig sind homogenisierte Gesellschaften in Auflösung bzw. in neue Gesellschaftsformen überführt worden. Damit Menschen diese Gemengelage verarbeiten können, bräuchten sie eigentlich gute Grundlagen der gemeinsamen Verständigung und starke Fähigkeiten der Konfliktbearbeitung. Doch genau diese Fähigkeiten, die eigentlich durch Sozialpädagogik, also allgemeine Erziehung erworben werden müssten, fehlen in Teilen der Bevölkerung. Das stellt eine zusätzliche Herausforderung für die Demokratie-Didaktik dar, die nun andere Vermittlungswege suchen muss, um einen Zugang zu Menschen herzustellen.

(c) JoDDiD // Anika Dollmeyer

Welche schadhaften Einflüsse, welche Gefahren und Risiken gibt es heute für das Gelingen einer Demokratie, die vor einiger Zeit noch nicht existierten?

Der Grad der Digitalisierung bildet einen erheblichen Unterschied zu früheren Jahrzehnten. Dadurch sind wir in einen gesellschaftlichen “Sofortismus” gekommen. Es ist uns möglich, bei allem live dabei zu sein. Fake News sind jederzeit verfügbar, und die großen Medien haben ihre Gatekeeper-Funktion verloren. Selbst das Statistische Bundesamt wird von Schülerinnen und Schülern nicht mehr als gültige Quelle akzeptiert. Die Frage, wie wir als Gesellschaft Informationen erhalten, denen wir vertrauen können, ist dadurch auch grundlegend für das Bestehen der Demokratie geworden. 

Dann gibt es den demographischen Wandel, der den Generationenvertrag aushebelt: Junge Menschen haben rein rechnerisch nicht die Möglichkeit, sich gegen die große Zahl der Wählerinnen aus der Baby-Boomer-Generation durchzusetzen.

Aus einer tendenziell standardisierten Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Singularitäten geworden (Andreas Reckwitz), was Einigungs- und Legitimationsprozessen wenig zuträglich ist. Soziale Ungleichheit wächst.

Die Polykrise tut ihr Übriges, indem sie demokratische Aushandlungsprozesse unter Stress setzt: Durch die bloße Menge an Themen, die gleichzeitig auf uns einströmt, ist es schwer geworden, sich als Gesellschaft gegen politische Diskursverschiebungen zu wehren, die die Grundwerte der Demokratie infrage stellen. Anfang der 2000er Jahre wurden noch Aufkleber verteilt, um zu verhindern, dass in Österreich Jörg Haider eine Koalition mit der FPÖ eingeht. Eine so starke Antwort auf das politische Geschehen heute ist bei den vielen parallelen Krisen kaum noch vorstellbar. Die Demokratie selbst gerät so unter Stress und wird immer häufiger hinterfragt.

In den Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt sich, dass demokratiegefährdende Einstellungen wie Verschwörungsglauben, Populismus und Billigung politischer Gewalt in der Mitte der Gesellschaft höhere Zustimmung erfahren – nicht, wie lange angenommen, nur an den Rändern. In einer krisenhaften Welt gerät politsche Bildung unter erheblich Druck: Wie können wir ein demokratisches Ideal vermitteln, wenn wir täglich erleben, dass unsere Aushandlungen nicht mehr ausreichen und funktionieren – wie durch Coronakrise, Klimakrise, Ökonomische Krisen erfahren?

Ist es möglich, den Demokratieindex von Menschen, Inhalten und Aussagen individuell zu messen? Können sich Einzelpersonen demokratisch oder undemokratisch verhalten?

Dafür müsste man erst mal wissen, was es heißt, “demokratisch” zu sein. Geht es nur darum, dass Menschen mündig sind, sich also informieren und politisch handeln können? Oder geht es darum, dass Menschen das auch tatsächlich tun und beispielsweise für bestimmte Themen auf die Straße gehen? Geht es darum, dass eine Person eine bestimmte Haltung und bestimmte Werte hat? Wenn ja, welche? Um das beurteilen zu können, müssen wir einen normativen Maßstab anlegen. Doch wo nehmen wir den her? Wenn man demokratische Werte vermitteln möchte, kann man sich auf unterschiedlichste Dinge fokussieren: auf liberale Rechte und Gewaltenteilung, aber auch auf Partizipation.

Gefährlich beweglich – die Grenze zwischen demokratisch und undemokratisch

Ernst Fraenkel hat gesagt, dass es für das Gelingen der Demokratie auch einen “nicht-kontroversen” Sektor braucht, in dem sich die normativen Grundlagen der Gesellschaft befinden. Damit dürften Dinge wie das Grundgesetz gemeint sein, Fragen der Gleichheit und Menschenwürde. Ob aber eine konkrete Handlung, Haltung oder Aussage diese Grundlagen verletzt, das ist ebenfalls Teil der demokratischen Auseinandersetzung. In der heutigen Zeit wird das stark strapaziert. Durch eine Verschiebung der Diskurse werden auch Dinge zur Disposition gestellt, die vermutlich den Kern dieser Grundlagen betreffen.

Messbarmachung: interessant, aber nicht unproblematisch

Natürlich kann es in dieser Lage auch für die Demokratie-Didaktik interessant sein, wenn man Lücken in den eigenen demokratischen Fähigkeiten erheben könnte und dann Entwicklungsmöglichkeiten zurückgespiegelt bekäme. Besonders, wenn es spielerisch erfolgt und zur Reflexion anregt. Wenn man es ernst meint mit der Messung von Menschen an einem Demokratie-Index, dann ist das auch gefährlich, weil dann Menschen bewertet werden, ohne dass klar ist: Was bedeutet das, wenn man bei dieser Messung schlecht abschneidet? Welche Konsequenz hat das?

Unser Fazit

In den letzten Jahrzehnten sind die Voraussetzungen für das Gelingen von Demokratie schwieriger geworden. Entscheidungen werden mittlerweile unter viel komplexeren Bedingungen getroffen als im 20. Jahrhundert. Durch eine digitale mediale und soziale Öffentlichkeit wird auch die Politik schneller und kurzlebiger und muss zeitnah auf Geschehnisse reagieren. Auch ist die Zahl der Interessengruppen und Stakeholder um ein Vielfaches gewachsen, was eine nachhaltige Legitimation der politischen Entscheidungen erschwert. Kognitive Kompetenzen, die lange ausreichend waren, um am politischen Leben teilzunehmen, sind in Zeiten von Polykrise und Polarisierung möglicherweise nicht mehr genug, um einen Überblick über die Landschaft aus Stimmen und Meinungen zu bewahren, und um eine faktische Realität, die wissenschaftlich belegt ist, von persönlicher Meinung und individueller Wahrnehmung zu trennen. Um uns für diese gestiegenen Anforderungen zu befähigen, hätten wir uns als Gesellschaft fortlaufend demokratisch qualifizieren und weiterbilden müssen, was bei Weitem nicht in dem Maße geschehen ist, wie es theoretisch erforderlich gewesen wäre. Wir erleben also in diesen Jahren nicht nur ein Demokratiedefizit in der politischen Praxis – wir sehen vor allem auch ein Demokratie-Kompetenz-Defizit, welches (wie wir glauben) sowohl Ursache als auch Folge der veränderten Rahmenbedingungen unserer Demokratie ist.

Die John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie (kurz: JoDDiD) ist eine Einrichtung an der Professur für Didaktik der politischen Bildung der TU Dresden. Nach ihrem Verständnis findet politische und demokratische Bildung im Alltag der Menschen statt. Mehr erfahren Sie unter https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/joddid/das-joddid