
„Demokratie funktioniert besser, wenn ich sie vor Ort gemeinsam erlebe“
Im Interview befragen wir den Soziologen Rainald Manthe zu lokaler Demokratie, multimodalen Räumen und zu seinen Vorschlägen für die Staatsreform.
Liegt Deinem Buch ein bestimmtes Verständnis von Staat und Gesellschaft zugrunde? Bezieht sich dieses Verständnis eher auf unsere Gegenwart und Vergangenheit, oder schwingt schon ein neues Staatsverständnis mit bei Deinen Vorschlägen?
Als Soziologe beobachte ich, wie unsere Gesellschaft funktioniert, und entwerfe erstmal keine normativen Forderungen. Ich sehe also, wie Menschen hier bei uns Demokratie verstehen, erleben, umsetzen und gestalten. Und dass unsere Demokratie viel mehr ist als eine Gesellschaftsform, die uns das Grundgesetz verordnet. Sie ist eine Praxis, die Menschen vor Ort, in den Städten, Dörfern und Gemeinden miteinander verbindet, und die dabei hilft, an gemeinsamen Lösungen zu arbeiten. Da sind Menschen im lokalen Bezug oft weiter und tiefer in einer demokratischen Praxis, als Gesetze und Verordnungen das formulieren.
Ist unser staatliches System überhaupt darauf ausgerichtet, dass Menschen eine Ermöglichung – beispielsweise für offene Begegnungsorte – erleben oder sich nehmen können? Oder ist diese Haltung eher eine Irritation für unser Staats- und Verwaltungswesen?
Es geht durchaus in Richtung einer Irritation der staatlichen Strukturen, wobei eine Irritation ja nichts Schlechtes ist. Sie weist uns darauf hin, dass unsere formalen Grenzen manchmal eng gesteckt sind und nicht viel Freiraum und Kreativität ermöglichen. Im Alltag ist es oft möglich, Lösungen zu finden, die vielleicht gar nicht verschriftlicht werden müssen, sondern im täglichen Tun entstehen und die gut funktionieren.
Wie nimmst Du den deutschen Staat im internationalen Vergleich wahr? Sind Misstrauen und Paternalismus möglicherweise ein Teil unserer DNA?
Deutschland ist ein Land mit einer mittleren Misstrauensquote. Im europäischen Norden ist das Vertrauen der Menschen untereinander höher als bei uns, im Süden und im Mittelmeerraum ist es niedriger ausgeprägt. Diese Zahlen beziehen sich darauf, ob sich die Menschen im Land gegenseitig vertrauen, und ob sie ihrem Staat vertrauen – es ist aber gut möglich, dass diese Zahlen auch etwas über das Vertrauen der staatlichen Strukturen in die Bürgerinnen und Bürger aussagt. In diesem Fall ist es wahrscheinlich so, dass ein höheres Zutrauen in die Menschen bestimmte Dinge und Prozesse erleichtern würde – beispielsweise die Umsetzung von Public-Private-Civic Partnerships.
Wie gelingt eine Durchführung von intersektoralen Projekten, die Du in deiner Arbeit erforscht und beschreibst? Also die Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und – falls lokal vertreten – der Wissenschaft auf kommunaler Ebene?
Intersektorale Projektarbeit ist eine unglaublich große Herausforderung für alle Beteiligten, weil Menschen aus unterschiedlichen Herkünften oft eine ganz andere Sprache verwenden. Manchmal benutzen sie die gleichen Worte, die aber anders konnotiert sind, was die Verständigung noch komplizierter macht. Projektarbeit ist immer voraussetzungsvoll, und wenn ganz unterschiedliche Bedarfe und Erwartungen zusammenkommen, dann macht es die Steuerung von Projekten nicht einfacher. Es hilft, sich diese Voraussetzungen und Hürden frühzeitig klar zu machen und transparent darüber zu sprechen.
Kommt in der intersektoralen Arbeit der Stadt als Gebietskörperschaft eine besondere Rolle zu? Ich nehme an, dass die Stadt als öffentliche Instanz anders und tiefer legitimiert ist, um Transformationsprozesse anzustoßen und zu steuern.
Grundsätzlich gehe ich nicht davon aus, dass eine Stadt, weil sie eine Gebietskörperschaft ist, automatisch die Führung oder Projektleitung übernehmen sollte – andere Partner sind für diese Rolle vielleicht besser geeignet oder ausgestattet. Es ist aber so, dass kommunale Strukturen in Politik und Verwaltung anders und tiefer legitimiert sind als beispielsweise ein lokales Wirtschaftsunternehmen – die Stadtspitze ist durch demokratische Wahlen eingesetzt worden und vertritt als solche die Menschen anders und besser, als das eine Hochschule, ein Verein oder ein Unternehmen tun kann. Insofern hat die Stadt eben doch eine besondere Verantwortung in intersektoralen Prozessen.
Du beschäftigst Dich mit bestehenden und neuen multimodalen Begegnungsorten in der Stadtlandschaft. Wie wichtig ist es, dass diese Orte unbeschrieben bleiben und von den Nutzenden selbst eine passende Deutung erfahren?
Begegnungsorte nicht als solche zu überschreiben, ist vor allem entlastend – weder fühlen sich Menschen durch Namen wie “Demokratiecafé” abgeschreckt, noch entstehen überhöhte Erwartungen an die Möglichkeiten solcher Räume. Begegnungen zwischen unterschiedlichen Menschen und Gruppen können vor allem dort gut entstehen, wo diese Menschen Orte gleichzeitig und nebeneinander, aber unabhängig – also ohne übergeordneten Kontext – nutzen können. Hier finden lose und offene Kontakte statt, die uns sonst in der Gesellschaft weitgehend abhandengekommen sind.
Hast Du einen Vorschlag, wie multimodale und intersektorale Orte nachhaltig betrieben und auch finanziert werden können?
Es ist in der Tat nicht einfach, hier gute Lösungen zu finden. Das liegt unter anderem daran, dass Kommunen finanziell nicht gut ausgestattet sind, dass viele Kommunen überschuldet sind und nur noch kommunale Pflichtaufgaben finanzieren und erbringen dürfen. Natürlich sind Mischfinanzierungen möglich, aber eine Öffentlichkeit und eine wirtschaftliche Unabhängigkeit entstehen nur durch eine sichere kommunale Basisfinanzierung. Wenn diese gegeben ist, dann lassen sich darauf weitere Finanzierungsmöglichkeiten aufbauen.
Du bist involviert in die große aktuelle Debatte zur Notwendigkeit einer Staatsreform. Welchen Punkt möchtest Du beisteuern – was sollte in der Staatsreform unbedingt abgedeckt werden, um die lokale Demokratie zu stützen und zu fördern?
Kommunen in Deutschland sollten unabhängiger von staatlichen Strukturen sein, sie sollten mehr eigene Handlungsspielräume erhalten und diese nach eigenem Ermessen gestalten. Dafür ist eine bessere finanzielle Ausstattung notwendig, aber eben auch eine Flexibilität bei der Umsetzung von Vorgaben der Landes- Bundes- und EU-Ebene. Glücklicherweise ist es mittlerweile leichter geworden, lokale Ausnahmeregelungen zu begründen und umzusetzen, beispielsweise beim Tempolimit in geschlossenen Ortschaften. Insgesamt plädiere ich dafür, dass die kommunale Daseinsvorsorge in Zukunft weiter gedacht wird als bisher, so dass Kommunen die Grundvoraussetzungen für lokale Begegnungen, gesellschaftliches Miteinander und demokratischen Zusammenhalt besser erbringen können.
Rainald Manthe ist Autor des Buches "Demokratie fehlt Begegnung. Über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts". Er setzt sich für lokale Initiativen ein, die offene Räume in Städten und Dörfern gestalten, und spricht regelmäßig über Gelingfaktoren der lokalen Demokratiearbeit. https://rainald-manthe.de/