Impulspapier Demokrative

„Einigkeit und Recht und Freiheit … Danach lasst uns alle streben brüderlich mit Herz und Hand!“

Wann haben wir das Streben nach Einigkeit verloren? Wissen wir nicht, dass uns ohne Einigkeit auf lange Sicht auch das Recht und die Freiheit wegbrechen? Wir brauchen Einigkeit nicht nur über regionale Grenzen hinweg, sondern auch über ideologische und identitäre Barrieren hinweg.

Menschen sind soziale Wesen. Kooperative und soziale Lebewesen sind auf lange Sicht ökonomisch erfolgreicher, sie leben länger, sie bekommen mehr Nachkommen. In einer Gruppe Gleichgesinnter leben wir gesünder, glücklicher, freier und selbstbestimmter.

Sind wir mutlos geworden?

Wir haben uns aus totalitären Herrschaften befreit und autokratische Regime hinter uns gelassen. Doch immer noch nicht haben wir das Ziel erreicht, von dem wir einmal gestartet sind. Wie lassen sich die Anfänge unserer Zivilisation mit der Zukunft der Menschheit neu denken und verbinden? Wie können wir alle besser miteinander leben? Die Demokratie unseren menschlich Bedürfnisse nach einem friedlichen und sozialen Miteinander anpassen? (siehe auch David Graeber: „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“). Müssen wir eine auf Konkurrenz und Machgelüsten basierenden Wettbewerbsdemokratie aushalten?

Von wem wollen wir regiert werden?

Eine unwidersprochene Tatsache, wir haben eine massive Überrepräsentation von Akademikern in unseren Parlamenten. 87 Prozent der Abgeordneten im Bundestag sind Akademiker, doch nur etwa 24 Prozent der Menschen besitzen laut Statista Global Consumer Survey Hochschulabschluss. Die prekäre Klasse, die klassische Arbeiterklasse und die Dienstleistungsklasse (siehe Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten) sind massiv unterrepräsentiert.

Wenn 70 Prozent der Menschen sich nicht repräsentiert fühlen, sinkt ihre Bereitschaft, sich für dieses System einzusetzen, es zu beschützen oder überhaupt noch demokratische Parteien zu wählen. Folge: Die Demokratie bröckelt.

Wettbewerbsdemokratie

Für eine Änderung des Grundgesetzes reichen 66 Prozent der gewählten Vertreter im Bundestag. In unserer Demokratie konkurrieren politische Meinungen um Macht. Wer gewinnt, dominiert mit seiner politischen Einstellung die Gesetzgebung. Es findet kein Ausgleich der Interessen aller Wähler statt. Bis zu 50 Prozent der Wählerinteressen (durch Sperrklausel noch mehr) werden potentiell auf Dauer ignoriert. Noch nie hatte eine Gesetzesinitiative aus der Opposition heraus im Bundestag Erfolg.

Koalitionslogik

Innerhalb der Koalition einer Mehrheitsregierung findet kein Ausgleich der politischen Interessen statt. Was haben wir stattdessen? Aus machtopportunistischen Gründen kommt es zu einer wechselseitigen Duldung von Minderheitsinteressen, weit entfernt von einer Mehrheitsmeinung in der Wählerschaft.

„Sie sind Vertreter des ganzen Volkes“, besagt Artikel 38 Grundgesetz. 

Wenn eine kleine Partei in einer Koalition in einer Wettbewerbsdemokratie mit einem massiven Repräsentationsdefizit seine politische Meinung durchsetzt, dann geschieht das im schlimmsten Fall gegen 95% der Gesamtwählerschaft. Ganz legal, weil unser demokratisches System das zulässt.

Die Wettbewerbsdemokratie sabotiert echte Repräsentation.

Wenn wir das Demokratieversprechen der Repräsentation einlösen wollen, müssen wir die Anreize für exekutive und legislative Kooperation in unserer Demokratie stärken.

Beteiligung

Wirksame Bürgerbeteiligung auf Bundesebene findet aktuell nicht statt.

Informelle Beteiligungsformate wie Online-Petitionen und die kürzlich durchgeführten Bürgerräte können die Wettbewerbslogik des politischen Betriebs nicht durchbrechen.

Seit 2005 gibt es Petitionen im Deutschen Bundestag. Noch nie war eine Online-Petition erfolgreich, die politische Meinungen der Regierung in Frage gestellt oder auch nur eingeschränkt hat. Petitionen werden für den politischen Wettbewerb instrumentalisiert. Petitionen wurden über Legislaturperioden hinaus nicht beantwortet, in der Hoffnung, dass die Petitionsforderungen mit neuen politischen Mehrheiten durchgesetzt werden können. Die Themen der vom Bundestag beauftragten Bürgerräte wurden von der Bundesregierung so ausgewählt, dass die Ergebnisse auf keinen Fall der Agenda eines Koalitionspartners schaden können. Heraus kamen die Themen „Deutschlands Rolle in der Welt“ und „Ernährung im Wandel“. 

Formen direkter Demokratie werden von allen Parteien befürwortet, nachdem sie länger in der Opposition waren. Sobald sie an die Macht kommen, wollen sie davon nichts mehr wissen (siehe Gertrude Lübbe-Wolff, Demophobie).

Die Chancen von Beteiligung als Korrektiv im Sinne einer besseren Repräsentation und im Sinne einer fachlichen Bereicherung werden ignoriert, weil unser demokratisches System das zulässt.

Wettbewerbsdemokratie sabotiert wirksame Bürgerbeteiligung.

Bürgerbeteiligung wird faktisch als ein Instrument des politischen Gegners in der eigenen Fraktion, in der eigenen Koalition, im Parlament oder außerhalb des Parlaments angesehen und genauso wie der politische Gegner bekämpft. 

Wenn wir das Demokratieversprechen von Bürgerbeteiligung einlösen wollen, müssen wir die Anreize für Kooperation in unserer Demokratie stärken.

Populismus

Mangelnde Repräsentation und unwirksame Beteiligung machen die Menschen empfänglich für Populismus. Es braucht wenig Überzeugungskraft, um vergessenen und ignorierten Menschen mit einfachen Wahrheiten Hoffnung zu geben. Dass die Versprechen nicht eingelöst werden können, nehmen die Menschen wissend in Kauf. Eine destruktive Form der Selbstwirksamkeit ist besser als gar keine Selbstwirksamkeit.

Populismus setzt auf Spaltung und die Abwertung des politischen Gegners.  Ein eskalierender Populismus verschiebt sich von der Sachebene auf die persönliche Ebene und von dort auf die identitäre Ebene. Im Ergebnis haben wir eine vergiftete, polarisierte, gespaltene Gesellschaft.

Auf der Sachebene gibt es tatsächlich weniger Spaltung im Land bei den grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens (siehe Steffen Mau, Triggerpunkte).

Populismus lässt sich nicht mit Fakten oder guten Argumenten entkräften. Populismus provoziert den Populismus der Gegenseite, um den politischen Wettbewerb nicht zu verlieren. 

Wenn politische Führungskräfte auf der persönlichen und identitären Ebene Menschen und Gruppen von Menschen systematisch abwerten, führt das zu einer Verrohung unserer Kultur und unseres Zusammenlebens. Der Glaube an die Demokratie geht bereits verloren, bevor die Demokratie ernsthaft gefährdet ist (siehe Veith Selk, „Demokratiedämmerung“).

Brandmauern aufgrund pauschaler, identitärer Zuschreibungen verschärfen die mangelnde Repräsentation und wirksame Beteiligung. Brandmauern legitimieren Polarisierung. Spaltung als Mittel zum Machterhalt bzw. Machterwerb werden als legitime Mittel im Kampf um die politische Macht angesehen.

Wettbewerbsdemokratie fördert die Spaltung der Gesellschaft.

Wenn wir das Demokratieversprechen von gesellschaftlichem Zusammenhalt einlösen wollen, müssen wir die Anreize für Kooperation in unserer Demokratie stärken.

Politisches Personal

Menschen die in die Politik gehen, sind meist durch einen starken Idealismus und das Ziel, ihre Werte und Überzeugungen in die Politik einzubringen, motiviert. 

Politiker konkurrieren intern in Parteien und zwischen Parteien um wenige Spitzenämter. Der Wille zur Kooperation wird nicht gefördert, sondern wird im Wettbewerb um Ämter und Posten zu einem Nachteil werden.

Der Wettbewerb im politischen System steigt massiv an. Die sozialen Medien haben eine Echtzeitigkeit in die Politik gebracht, die der Demokratie nicht gut tut. Meinungsfindung, Deliberation, Konsens brauchen Zeit. 

Oft werden sie im politischen Betrieb desillusioniert. Immer mehr Politiker geben nach einiger Zeit wieder auf, inzwischen auch in Spitzenämtern (siehe Antje Kapek, Macht und Müdigkeit)

Wenn wir die besten Menschen mit selbstlosen Absichten für unser politisches System gewinnen wollen, müssen wir die Anreize für Kooperation in unserer Demokratie stärken.

Die Wettbewerbsdemokratie macht das politische Personal und das politische Engagement kaputt.

Der integrierende Charakter der ehemaligen Volksparteien kann immer weniger gewährleistet werden. Es kommt zu einer zunehmenden Fragmentierung des politischen Betriebs durch Single Issue Influencer, Bündnisse und Initiativen, die den politischen Betrieb als Geschäftsmodell kultivieren. Je mehr sie auf ihrem Standpunkt beharren, umso stärker wird es von ihren Followern honoriert. Die Bereitschaft zur Kooperation sinkt.

Reichweite und Aufmerksamkeit wird transferiert in Stimmen, Stimmen geben politischen Einfluss und für politischen Einfluss sind Menschen bereit zu bezahlen.

Die Wettbewerbsdemokratie macht Politik zu einem wirtschaftlichen Geschäftsmodell.

Abwägung Wettbewerb versus Kooperation

Abwägung von Wettbewerbsdemokratie versus Kooperationsdemokratie.

Argument Nach dem parlamentarischen Modell „Winner (-Koalition) takes it all“ können Gesetze schneller und effizienter beschlossen werden, ohne auf Widerstände und Konflikte Rücksicht nehmen zu müssen. 

Abwägung Effiziente Entscheidungen sind kein Selbstzweck. Entscheidungen müssen zugleich auch effektiv sein im Sinne einer Identifizierung der richtigen Probleme und einer tatsächlichen Lösung der richtigen Probleme im Interesse der Gemeinschaft. Es gilt hier eine Balance zu finden zwischen effizienter und effektiver Entscheidungsfindung.

Argument In einer Gemeinschaft ist der Wettbewerb der politischen Werte, Ziele und Ideen erstrebenswert und hilft der Gemeinschaft, die bestmögliche Lösung im Interesse der Gemeinschaft zu finden.

Abwägung Ein Wettbewerb zwischen Parteien kommt zum Erliegen, wenn gar nicht mehr versucht wird, Menschen außerhalb der eigenen Partei für sich zu gewinnen, wenn es also nur noch um die Bestätigung der eigenen Parteiideologie geht. Dann geht es nicht mehr um eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern nur noch um den Status Quo des Machterhalts als Selbstzweck. Eine dynamische Anpassung an neue Gegebenheiten findet nicht mehr statt. In der Wirtschaft würden diese Kräfte Kartelle genannt und zerschlagen werden, im Interesse eines funktionierenden Wettbewerbs.

Argument In einer Welt von inneren und äußeren Bedrohungen suchen wir nach einer starken Führung, die im Wettkampf gegen Konkurrenten ihre Kampfkraft und Führungsstärke bewiesen hat. 

Abwägung Wir können der Erzählung „Der Stärkere gewinnt“ nachgeben und 8.000 Jahre Aufklärung und Emanzipation der menschlichen Zivilisation über Bord werfen oder wir können eine positive Vision dagegen setzen. Die Vision einer solidarischen Gemeinschaft, die stärker, resilienter und erfolgreicher ist, als allein auf eine fehlbare Führungsfigur setzen zu müssen.

Die Wettbewerbsdemokratie propagiert das destruktive Paradigma „Der Stärkere gewinnt“.

Ein positives Paradigma wäre es, Anreize für Kooperation in unserer Demokratie zu stärken.

Ausgestaltung einer Kooperationsdemokratie

In einer Übergangsphase könnten zeitlich begrenzte Gremien zu bestimmten Themen mit Vertretern aller gewählten Parteien nach Proporz ähnlich einem Bürgerrat Lösungen erarbeiten. Eine Annäherung der Parteipositionen erfolgt in einem moderierten, formellen Verfahren, indem wechselseitige Zugeständnisse an die Positionen der übrigen Parteien abgegeben werden.

In einer umfassenden Kooperationsdemokratie würde eine Regierung aus Delegierten aller gewählten Parteien nach Proporz entsendet werden, die dann kooperativ die Regierungsgeschäfte führen.

Neben der Vermeidung der Nachteile der Wettbewerbsdemokratie hat die Kooperationsdemokratie weitere Vorteile:

  • Echte Trennung von Exekutive und Legislative – Die Regierungsvertreter erarbeiten Gesetze im Konsens nach den politischen Vorgaben des Parlaments. Das Parlament ist von Koalitionszwang und Fraktionszwang befreit.
  • Stärkere Berücksichtigung von Minderheitsmeinungen und -Wertvorstellungen, bevor sie sich weiter radikalisieren oder popularisieren.
  • Parteien werden unterscheidbarer und können sich besser voneinander abgrenzen, wenn sie in Koalitionen nicht mehr die Positionen der Koalitionspartner mittragen müssen.

Kritik:

  • Elitenbildung
  • Erhalt des Status Quo
  • Impulse für Initiativen

Schlussfolgerung

Wir brauchen eine Staatsreform. Einen Paradigmenwechsel, wie wir politische Zusammenarbeit organisieren. 

Wir können dafür den Artikel 146 Grundgesetz bemühen und das Grundgesetz in einem inklusiven, informierten Beteiligungsverfahren ändern. Das braucht Zeit, Besonnenheit und eine breite Akzeptanz.

Wir können uns in der Zwischenzeit in kooperativer Politik üben und unsere politische Kultur, unsere Prozesse, Verfahren und Geschäftsordnungen anpassen und sehen, wie weit sie uns tragen.

Um den Fortschritt der notwendigen kooperationsfördernden Reformen sicherzustellen, braucht es eine eigene Gewalt im Staate, aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Es braucht eine Instanz, die den Willen zur Kooperation aller politischen Kräfte zunächst befördert (Zivilgesellschaftlicher Kooperationsrat) und schließlich institutionalisiert durchsetzen kann (Bundesamt für Kooperation).

Im Kleinen, in der Beziehung, in der Familie, im Verein, im Dorf, im Kiez sorgen wir bereits aktiv dafür, dass die Voraussetzungen für ein kooperatives Miteinander gewahrt sind und bleiben.

Im Großen stehen wir in der gleichen Verantwortung für ein kooperatives Miteinander zu sorgen. Demokratie verteidigen heißt genau das, die Voraussetzung für ein demokratisches, kooperatives Miteinander einzufordern und langfristig zu sichern.

Egal welche unterschiedlichen politischen oder moralischen Einstellungen wir haben, uns alle eint, dass wir in einer freiheitlichen, demokratischen Ordnung leben wollen. 

Die Menschen haben ein Bedürfnis und eine Sehnsucht nach Einigkeit. Nicht nur Bürgerinnen und Bürger, auch die meisten Akteure im politischen System wollen eine kooperative Form der politischen Aushandlung von gemeinschaftlichen Interessen.